In Grönland schmelzen die Gletscher. Und die Menschen
sorgen sich um die Zukunft der Welt.
Auf Spurensuche in einem bedrohten Naturparadies.
Wenn das Eis weint
Text: Christoph Quarch | Fotos: Sven Nieder
aus dem Magazin WIR – Menschen im Wandel
Lacht der Gletscher oder weint er? Nukartaa ist um die Antwort nicht verlegen. „She is crying“, sagt er. „Das Eis weint, und der Fluss, den du dort siehst, trägt seine Tränen ins Meer.“ Nukartaa sagt das mit betroffener Miene. Auch er, der Grönländische Älteste mit seinen Zahnlücken, ist dem Weinen nahe. Und ich denke an die türkis-blauen Seen, dich ich gestern auf dem Inland-Eis gesehen habe. Wie Augen blickten sie aus der Tiefe in den Himmel. Das war beim Landeanflug auf Kangerlussuaq. Da hüpfte mir das Herz vor Freude. Jetzt aber bin ich beklommen: Der Gletscher weint. Kangerlussuaq ist Grönlands Tor zur Welt – und die Drehscheibe für den Grönländischen Inlands-Luftverkehr. In viereinhalb Stunden bringt einen der Airbus der Air Greenland von Kopenhagen dorthin. Nur von dort gehen Flüge zur größten Insel der Welt. Und die sind richtig teuer. Trotzdem bin ich hier, in Kangerlussuag – in der Take-Away-Pizzabude gegenüber vom Flughafen. Früher war das hier eine US Air-Base, angelegt während des 2. Weltkriegs, um die Bomber auf dem Weg nach Europa aufzutanken, später dann auch die Rosinenbomber auf dem Weg nach Berlin. Auch heute steigen hier noch amerikanische Transportmaschinen in den blassblauen Sommerhimmel. Obwohl das Flugfeld längst der zivilen Luftfahrt überlassen ist. Und mehr als das gibt es hier auch nicht. Höchstens sind es hundert Häuser, die sich um die Landebahn gruppieren. Besser gesagt: containerartige Behausungen, denn alles hier atmet den spröden Charme einer ehemaligen Air-Base. Selbst die Pizza-Bude. Dort habe ich Nukartaa getroffen. Wir haben dasselbe Ziel: eine Veranstaltung, die in ein paar Tagen draußen in der Wildnis beginnen wird. In einem Camp zu Füßen des Russels-Glacier – eines gewaltigen Eisstromes, der sich hier zwölf Kilometer vom grönländischen Inlandeis hinunter windet in das sanfte, grüne Hügelland des grönländischen Westens. Eingeladen hat dorthin der Bruder Nukartaas. Angaangaq heißt er, ein Eskimo wie er. Aber ein besonderer. Angaangaq hat sein Volk bei der UNO repräsentiert. Er ist ein angesehener Ältester seines Volkes. Und er reist durch die ganze Welt, um den Menschen vom Drama in seiner Heimat zu erzählen: „The Big Ice is melting – Das große Eis schmilzt“. Und es wird Zeit, dem zu begegnen. 28 Grad im Schatten. Deshalb hat Angaangaq ans Ende der Welt eingeladen. Er möchte über die geistige Bedeutung des Klima-Wandels reden. Mit Menschen aus der westlichen Welt, mit Vertretern indigener Völker, mit den Ältesten seines Volkes.
Und so bin auch ich aufgebrochen, um Grönland kennen zu lernen: das Land, in dem der Klimawandel kein Zukunftsszenario ist, sondern tägliche Realität. Das Land, in dem die Gletscher weinen. Tun sie das wirklich? Ich will es wissen. Mit Adam, einem leutseligen Eskimo, fahre ich in einem abenteuerlichen Gefährt, mit dem man wohl auch über den Mond brettern könnte, zum Russels-Glacier. Knapp eine Stunde brauchen wir für die 25 Kilometer, die Kangerlussuaq von der Eis-Kappe trennen. Die restlichen 800 Kilometer bis zur Ostküste gibt es dann nur noch das ewige Eis? Ewig? Wenn ich in die grau-braunen Fluten des Watson-River schaue, bin ich mir da nicht so sicher. Ungeheure Wassermassen führt dieser Strom von den Gletschern ab zum Sondre Stromfjord, der sich von der Westküste fast 200 Kilometer tief nach Kangerlussuaq ins Landesinnere gegraben hat. Die Piste zum Gletscher folgt dem Watson-River durch eine Gegend, bei der man denken möchte, dass der Klima-Wandel schon gnadenlos zugeschlagen hat. Es geht durch Sanddünen. Das Thermometer zeigt 28 Grad Celsius. Man könnte meinen, in der Sahara zu sein. Wäre da nicht das gleißend weiße Band am östlichen Horizont – wäre da nicht das Eis. Trotzdem ist der Eindruck nicht falsch. Wir durchqueren eine arktische Wüste – kaum Niederschlag fällt hier auf die Tundra. Und im Sommer brennt die Sonne 20 Stunden am Tag auf das Land. Ins Schwitzen kommt der Gletscher dabei auf jeden Fall. Wenig später stehe ich vor einer Wand aus Eis. Der Anblick ist atemberaubend schön. Türkisblau schimmert das Eis in den Höhlen, die der Fluss durch die Gletscherzunge gebohrt hat. Fünfzig bis hundert Meter dürfte sie hier hoch sein. Eis, wohin das Auge blickt.
Ich beruhige mich: Bis das hier weggetaut ist, müssen noch Jahre vergehen. Vielleicht ist das Eis ja doch ewig. In diesem Augenblick dröhnt ein urweltlicher Donner aus dem Gletscher. Ein riesiger Eisturm bricht in sich zusammen und stürzt mit einer meterhohen Fontäne in den Fluss. „She’s screaming“ (Sie schreit), sagt Adam.
Da wird mir klar, dass es so einfach doch nicht ist. Die Grönländer jedenfalls bangen um ihr Eis. Und vielleicht sollte die Welt ihnen darin folgen. Adam erzählt: „Das Eis schmilzt schnell. Es ist porös geworden“. Normalerweise bietet die Polar Lodge – das Touristenunternehmen, für das er arbeitet – in dieser Jahreszeit Exkursionen aufs Eis an. Dieses Jahr fallen sie flach. Die Eisschrauben, die für die Befestigung der Zelte ins Eis gebohrt werden müssen, halten nicht mehr. Dann zeigt er auf die Seitenmoränen, die hier lehrbuchartig den Eisstrom flankieren. Da sehe auch ich: Sie sind viel höher als das Eis. 50 bis 100 Meter scheint das Eis an Dicke verloren zu haben. „Allein in den letzten zehn Jahren“, sagt Adam. Und er empfiehlt mir, die Sache genauer anzuschauen: am nächsten Tag mit seinem Kollegen Christian die Tour zur Ice-Cap mitzumachen. Ich schlage ein. Zumal ich auf diesem Weg bequem in Angaangaqs Camp kommen werde. Hier wird schnell geschmolzen Dieses Mal ist es ein zu einem Bus umgebauter LKW, der sich die Piste hinaufwindet – bis die Fahrt plötzlich vor einem riesigen Schotterhaufen endet – einer Moräne des Inlandeises. „Vor ein paar Jahren konnten wir hier direkt aufs Eis fahren“, sagt Christian. Heute muss man die Moräne 40 Meter hinabsteigen, um das gefrorene Meer zu betreten. Und auch das ist längst nicht so gefroren, wie es von oben aussieht. Millionen kleine Bächlein winden sich über das brüchige Eis. Kein Zweifel. Hier wird schnell geschmolzen. Auch wenn der endlose weiße Horizont das Versprechen zu geben scheint: Dieses Eis ist ewig. Wissen und Schein finden hier nicht mehr zusammen. Abends treffe ich Angaangaq. Seine Begrüßungsansprache an die Gäste ist dramatisch: „Hoch oben im Norden, im Januar 1963, kamen Jäger zu den Ältesten ihres Clans und erzählten, sie hätten ein Rinnsal Wasser gesehen, das von Eis herab getropft sei. Bei minus 35 Grad. Die Ältesten meinten, die Männer hätten sich in der US-Base in Thule einen hinter die Binde geschüttet. Drei Monate später konnten sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass sie nicht betrunken waren. Und aus dem Rinnsal war ein Bach geworden.“ Angaangaq spricht eindringlich. „Täglich schmilzt das Eis 20 Zentimeter, gleichzeitig richten sich die Bäume auf. Früher krochen sie über den Boden, heute werden sie mannshoch.“ Und dann steigt ein heiliger Zorn in dem Mann auf: „Der Grund dafür ist euer Lebenswandel“, sagt er. „Ihr habt das Maß verloren – und wir müssen es ausbaden!“ Nahebei grummelte der Gletscher und schickt eine eisige Brise herüber. Mich friert. „… weil Ihr Mutter Erde quält!“ Angaangaq redet weiter: „Ganze Länder werden untergehen, wenn das Eis Grönlands zu Meerwasser geworden ist! Warum?“ – sein Blick geht in die Runde: „Weil ihr Mutter Erde quält, weil ihr sie vergewaltigt. Weil ihr das Wissen der indigenen Völker ignoriert. Wir waren die ersten, die unsere Füße auf das Große Eis gesetzt haben – und wir werden auch die letzten sein!“, sagt er. „Aber niemand hört uns zu. Ihr schickt eure Wissenschaftler, dabei solltet ihr auf die Worte unserer Ältesten hören. Sie haben Jahrtausende mit dem Eis gelebt. Niemand kennt es so gut wie sie.“
Die versammelten 150 Menschen klatschen Beifall.Und verstummen, da die 81-Jährige Atsaarsuaq Hansiina das Wort ergreift. „Unsere Vorfahren gingen sorgsam mit der Erde um. Sie nahmen nicht mehr als sie brauchten, und sie achteten das Gesetz der großen Balance. Sie waren nicht reich an Dingen, aber sie waren reich im Herzen“, sagt sie. „Doch dann kamen andere, die uns unterwarfen. Sie glaubten, sie wüssten es besser als wir – und zerstörten das Land. Nun ist die Zeit gekommen, dass wir unsere Weisheit mit der Welt teilen. Damit die Erde geheilt wird!“ Ihre mahnenden Worte werden nicht die einzigen bleiben, bei dieser denkwürdigen Zusammenkunft. Unisono erhebt sich der Chor der indigenen Weisen.Ob aus Neuseeland, Nepal, Sibirien, Simbabwe, Bolivien, Brasilien oder den USA. Alle sagen sie das eine: Die Welt ist im Wandel, ihr Gleichgewicht gestört. Es liegt an uns, die Balance wieder herzustellen. Tun es nicht wir, dann tut es die Natur – auch wenn sie dabei ganze Länder versenkt. Auch Jane Goodall stimmt ein. Die UN-Friedensbotschafterin ist extra in den Norden geeilt, um den Ältesten der Völker ihre Solidarität zu zeigen. „Wie kann es sein, dass der Mensch – das intelligenteste Wesen – die Erde zerstört?“, fragt sie. Und gibt sich die Antwort selbst: „Es scheint, als seien wir von allen guten Geistern verlassen. Es scheint, dass wir die Verbindung von unserem Intellekt zum Herzen verloren haben.“ Damit spielt sie auf die Worte des Gastgebers an, hatte doch Angaangaq seine feurige Rede mit dem Appell beendet, nur wenn der Mensch das Eis in seinem Herzen schmelzt, könne er den Folgen des schmelzenden Eises wirklich etwas entgegnen. Den Klimawandel selbst könne niemand mehr stoppen. Manche der versammelten Schamanen und Ältesten können dem aber auch Gutes abgewinnen. Dave Courchene, ein nordamerikanischer Indianer, etwa meint, das schmelzende Eis werde eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte einläuten, weil das Schmelzwasser neue Geister freisetzen wird – die guten eben, von denen wir uns verlassen wähnen. Hm, denke ich mir, und notiere es als indigene Denkmöglichkeit. Wenn ich dann allerdings die esoterischen Deutungen mancher europäischer Schamanenschüler im Camp höre, die etwas von 2012 und Maya-Kalender raunen, kommt mir zuletzt ein ketzerischer Gedanke. Vielleicht hat Mutter Erde ja einfach genug von uns. Aber vielleicht hat ja auch Haru Kuntanawa Recht – der junge Indianerhäuptling, der mit vollem Federschmuck aus den Untiefen des Amazonasbeckens nach Grönland gekommen ist. Er sagt: „Bei uns wird der Wald zerstört, hier wächst ein neuer. Ich sehe ein blühendes Grönland.“ So viel Optimismus geht den Grönländern dann aber doch zu weit. Ich rede mit Laali, einer 35 Jahre jungen Inuit-Frau, die in der Hauptstadt Nuuk in einem Internet-Café arbeitet. Laali ist in Sorge darüber, dass sich im Norden der Insel die Eisbären gegenseitig angreifen und fressen – weil sie wegen des geschmolzenen Schelfeises nicht mehr auf Robbenjagd gehen können. Aber sie sieht auch, dass bei den jungen Grönländern das Bewusstsein dafür wächst, in welch einem kostbaren Naturparadies sie leben: und dass es bei aller wirtschaftlichen Entwicklung darauf ankommen wird, es zu erhalten. Öl wäre gut, sagt sie, aber doch nur, wenn wir damit ähnlich weise umgehen wie die Norweger. An ihr ist die Botschaft der Ältesten nicht vorbeigegangen: „Wir müssen behutsam mit dem Land umgehen“, sagt sie, „und die Weisheit der Alten mit dem Wissen der Jungen zusammen bringen.“ Vielleicht ist das ja wirklich das Rezept. Vielleicht stimmt es ja, was die Ältesten sagen: Wir müssen das Maß finden und das Gleichgewicht halten. Und im Übrigen das Eis in unseren Herzen schmelzen. Grönland ist dafür ein guter Ort. Nicht nur wegen des arktischen Sommers, der einen nicht müde werden lässt. Nicht nur wegen der Sonne, die 20 Stunden lang das Herz erwärmt. Vor allem wegen der zerbrechlichen Schönheit dieser schweigsamen Insel. Selbst wenn ich ein Herz aus Stein hätte: Der Anblick des Grönländischen Eises im warmen Licht der Mitternachtssonne ist herzerweichend. Auf dem Heimflug kann ich den Blick nicht vom Fenster wenden. Die eisige Welt unter mir schläft in zartem Rosa. Im Pop-Kanal der Air Greenland läuft Michael Jacksons Earth Song: “What have we done to the World?“ Das frage ich mich auch.
Das Buch zur Sacred Fire Ceremony:
Heiliges Feuer – Schamanen und Älteste für die Welt
Grußwort: Angaangaq Angakkorsuaq
Fotografie: Sven Nieder
Text: Angela Babel, Dr. Christoph Quarch
Gestaltung: Björn Pollmeyer
156 Seiten
Format 25 x 29 cm
Aurum, 2010
FSC, CO2 neutral (Forest Carbon Group)
ISBN 978-3899013566